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Zur Diskussion um das Jugendstrafrecht :

Presse

Alle Jahre wieder schreien Populisten nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts. Heuer ist es der Wahlkämpfer Roland Koch, mittlerweile mit Rückendeckung von der Kanzlerin und der CSU. Die üblichen Forderungen sind: „Warnschussarrest“, „Erziehungscamps“, Erhöhung der Höchststrafe von 10 auf 15 Jahre, Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende (18–21 Jahre) und, bei Jugendlichen aus anderen Ländern, schnellere Abschiebung. Demgegenüber haben alle vernunftbegabten, mit den Sachfragen vertrauten und einem staatsbürgerlichen Gewissen verpflichteten Strafjuristen ihre Stimme zu erheben: ...

Alle Jahre wieder schreien Populisten nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts. Heuer ist es der Wahlkämpfer Roland Koch, mittlerweile mit Rückendeckung von der Kanzlerin und der CSU. Die üblichen Forderungen sind: „Warnschussarrest“, „Erziehungscamps“, Erhöhung der Höchststrafe von 10 auf 15 Jahre, Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende (18–21 Jahre) und, bei Jugendlichen aus anderen Ländern, schnellere Abschiebung. Demgegenüber haben alle vernunftbegabten, mit den Sachfragen vertrauten und einem staatsbürgerlichen Gewissen verpflichteten Strafjuristen ihre Stimme zu erheben:

1. Die Behauptungen zur Jugendkriminalität sind falsch oder bewusst wirklichkeitsverzerrend. Ja, es gibt immer wieder grausame und widerwärtige Taten auch jugendlicher Täter. Ja, unter diesen jugendlichen Tätern gibt es ganz bestimmte ethnische Gruppen, die stärker auffallen als andere, und zu ihnen gehören auch junge Männer aus der Türkei und manche jungen Aussiedler. Aber das ist erstens nicht kennzeichnend für die ethnische Gruppe als Gesamtheit. Zweitens ist die schwere Jugendgewalt, die derzeit die Fernsehschirme füllt, insgesamt seit vielen Jahren rückläufig – wie die schwere Gewalt insgesamt. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik und die Periodischen Sicherheitsberichte der Bundesregierung sprechen insoweit eine eindeutige Sprache. Zusammenfassend stellt der letzte Periodische Sicherheitsbericht fest (im Netz abrufbar unter www.bmj.bund.de):

Es zeigt sich keinesfalls die oft befürchtete allgemeine Brutalisierung unserer Gesellschaft, im Sinne einer stetigen Zunahme oder auch einer qualitativen Verschärfung dieser Formen schwerer Gewaltkriminalität. Eher ist das Gegenteil der Fall: Die Bürger lehnen nicht nur Gewalt in zunehmendem Maße ab; es ist auch ein Rückgang der Gewalt in zahlreichen Lebensbereichen zu beobachten. Sofern Anstiege überhaupt erkennbar sind, beschränken sie sich auf das Hellfeld offiziell den Strafverfolgungsbehörden bekannt gewordener Vorfälle und auch dort nur auf Teilbereiche.

Soweit überhaupt Anstiege der Gewaltkriminalität verzeichnet werden, betrifft dies leichtere Delikte, und es spricht alles dafür, dass diese Anstiege nicht eine Entwicklung der realen Tatzahlen abbilden, sondern zwei ganz anderen Faktoren geschuldet sind: einer sogenannten Aufhellung des Dunkelfeldes – die Polizei erhält heute schneller und häufiger Kenntnis von leichterer Gewalt, vor allem weil die Menschen
sie schneller und häufiger anzeigen – sowie einer erhöhten Empfindlichkeit der Gesellschaft (auch schon) gegenüber leichterer Gewalt. Besonders deutlich tritt dies in der vielfach erhobenen Forderung zutage, auch seelische (psychische) Drangsalierung als Gewalt zu brandmarken. Zur Jugend(gewalt)kriminalität fasst der schon zitierte Sicherheitsbericht zusammen:

Kontrastierungen der Polizei- und Justizstatistiken einerseits und der Befunde aus Dunkelfelderhebungen andererseits lassen insgesamt gesehen den Schluss zu, dass es in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu einer erhöhten Sichtbarkeit der Kriminalität junger Menschen gekommen ist. Den gestiegenen Zahlen polizeilich registrierter Fälle liegen keine realen Zunahmen zugrunde. Auch eine qualitative Verschärfung, im Sinne eines steigenden Schweregrades der Delikte, ist empirisch
nicht festzustellen. So zeigen alle vorliegenden Dunkelfeldstudien Rückgänge der Gewalt junger Menschen. Dies bezieht sich sowohl auf die im schulischen Kontext begangenen Handlungen als auch auf Handlungen außerhalb der Schule. Daten der Versicherungswirtschaft bestätigen die
entsprechenden Befunde von Dunkelfeldstudien.

2. Die Medien verzerren die Wirklichkeit noch weiter. Vor einigen Jahren waren es die Kampfhunde. Dann waren es sexualdelikte gegenüber Kindern. Dann war es die Vernachlässigung von Kindern. Jetzt sind es Gewaltdelikte Jugendlicher, am besten ausländischer Jugendlicher. Die Berichterstattung der Medien greift sich Jahr für Jahr einen besonders sensationellen oder zu Herzen gehenden Fall heraus und schießt sich dann systematisch – oder zwanghaft – auf vergleichbare Fälle ein, indem sie einen jeden davon auf die Seite 1 bringt, verbunden mit dem Zusatz „Die
Kette der XY-Fälle reißt nicht ab. Schon wieder hat…“ Die Vorfälle mit Kampfhunden waren während der fraglichen Pressekampagne nicht häufiger geworden. Die Sexualdelikte gegenüber Kindern nehmen nicht zu, im Gegenteil. Die Vernachlässigung von Kindern ist heute nicht häufiger zu beklagen als früher, im Gegenteil. Und die Gewalt Jugendlicher nimmt nicht zu, im Gegenteil. Aber die Medien suggerieren es – bis es langweilig wird und sie den Eindruck haben, das Publikum verlange nach neuen
Sensationen, Skandalen und Katastrophen.

Man könnte auf diese Weise zum Beispiel auch über Verkehrsunfälle berichten. 2007 hatten wir nach den aktuellen Zahlen und Schätzungen des Statistischen Bundesamtes (PM Nr. 492 vom 5. 12. 2007) etwa 5.070 Verkehrstote, darunter allein von Januar bis August 80 Kinder, und 435.000 im Straßenverkehr Verletzte, oft Schwerverletzte. Pro Tag sind das im Schnitt 14 Tote und 1.190 Verletzte. Die Ursache der Unfälle
ist in der Regel menschliches Verschulden, neben Unachtsamkeit nicht selten überhöhte Geschwindigkeit und Alkoholgenuss. Und was ließen sich aus diesem Gemetzel tagtäglich für Schlagzeilen machen: „Wieder fünf Tote bei Frontal-Crash. Hört das denn nie auf?“ Oder „Die Kette der von Rentnern verschuldeten schweren Unfälle mit mehreren Toten reißt nicht ab:… Oder: “Wieder stirbt ein Familienvater nach Unfall mit Betrunkenem – wieviel Toleranz gegenüber dem Alkohol wollen wir uns noch erlauben?“
Aber stattdessen liest man ganz andere Überschriften, etwa diese: „Zahl
der Verkehrstoten sinkt auf Rekordtief“. So stand es 2004 im SPIEGEL. Und da waren es noch 6.606 Tote pro Jahr. Zum Vergleich: Durch Mord und Totschlag starben 2005 in Deutschland 804 Menschen (übrigens 30% weniger als noch 1997). Aber was ist ein Verkehrsunfall schon im Vergleich mit sex and crime? Und apropos Rekordtief: Auch die Zahl der Drogentoten ist auf einem Rekordtief seit der Wiedervereinigung. Aber wen interessiert das? Sehr interessiert waren die Medien an den Drogentoten Ende der 80er-Jahre; denn damals stiegen die Zahlen, und die Meldungen davon schafften es verlässlich auf die ersten Seiten der Zeitungen und in die Tagesschau. Heute nimmt man dafür Bilder prügelnder, bevorzugt ausländischer Jugendlicher. Dass die Gewaltkriminalität auch der Jugendlichen insgesamt sinkt, macht
nichts. Denn ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Und es lässt sich auch viel besser verkaufen.

3. Was Koch und Co. wollen, steigert die Kriminalität. Die Maßnahmen, die von den Populisten und Agitatoren mit großer Regelmäßigkeit gefordert werden, sind erwiesenermaßen unbrauchbar. Das wissen auch alle, die etwas vom Fach verstehen. Ein „Warnschussarrest“ erhöht die Wahrscheinlichkeit erneuter Auffälligkeit; „Erziehungscamps“ sind eine Idee aus den USA, die dort schon ohne Erfolg ausprobiert worden ist. Die Kriminologie – die Wissenschaft von der rechtstatsächlichen Seite des Strafrechts – weiß, dass weder paramilitärischer Drill noch rigide Kontrollen durch Gleichaltrige die Rückfallgefahr nach einer Entlassung mindern. Im Gegenteil erhöhen häufige Haft und möglichst strenge Haftbedingungen die Wiederauffälligkeit. Es sind dies keine schmusebedürftigen Glaubenssätze, sondern schlicht belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse: Ergebnisse eines jahrzehntelangen, gänzlich leidenschaftslosen Zählens, Beobachtens und Vergleichens. Auch eine häufigere Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf die 18 bis 21Jährigen kann die Kriminalität nur
steigern, jedenfalls nicht senken. Denn Folge wäre, dass für diese Altersgruppe die Vielfalt der Reaktionsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts entfiele – zum Beispiel gemeinnützige Arbeit – und in den meisten Fällen Geldstrafe und (Ersatz-)Freiheitsstrafe zu verhängen wäre, was die Rückfallwahrscheinlichkeit im Vergleich zu den Sanktionsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts nur negativ beeinflussen kann. Und es ist nicht weniger als eine Unverschämtheit gegenüber der Justiz und eine ideologieverblendete Verkennung der Tatsachen zu behaupten, die Gerichtete wendeten das Jugendstrafrecht auf die 18 bis 21Jährigen häufiger an, als der Gesetzgeber dies gewollt habe.

Ja, es gibt jugendliche „Intensivtäter“, die der Polizei und der Justiz auf der Nase herumzutanzen scheinen. Aber erstens ist dieses „Herumtanzen“ vor allem ein Stück, das medial in Szene gesetzt wird. Denn die fragliche Klientel entgeht den staatlichen Reaktionen nicht, sondern erweist sich lediglich auch gegenüber steigender Sanktionenschärfe nachhaltig als lernresistent. Und zweitens machen die sogenannten Intensivtäter nur etwa 5% der jugendlichen Straftäter aus. Aus den Medien mag man einen anderen Eindruck gewinnen. Aber das liegt an der Selektivität der Berichterstattung (oben 2). Natürlich sind jene Fälle ein Problem! Aber ist das ein Grund, gegenüber 95% der jugendlichen Straftäter hirnzerreißenden Schwachsinn zu praktizieren?

4. Koch & Co. missbrauchen die Angst der Menschen vor Gewalt zur Hetze gegen Ausländer. Es gibt die Möglichkeit, straffällig gewordene Ausländer auszuweisen und abzuschieben, und die Schwelle liegt vergleichsweise niedrig (§§ 53 ff. Aufenthaltsgesetz). Ein Vollzugsdefizit ist nicht ersichtlich. Warum wird es dann von einigen
Politikern – frei von Sach- und Zahlenkenntnis, frei von praktischer Erfahrung – behauptet? Weil sich damit Stimmung machen lässt; weil es in unserem Land noch immer den niederen Instinkt latenter Ausländerfeindlichkeit gibt und es so einfach ist, ihn zu wecken, um Wahlen zu gewinnen. Es ist einfach – und schäbig. Denn wer so redet, spielt mit dem gesellschaftlichen Frieden eines Landes, das auf Einwanderung und damit auf Integration lebensnotwendig angewiesen ist.

Es stimmt, dass Jugendliche bestimmter ethnischer Gruppen bei bestimmten Formen jugendlicher Gewaltdelikte überrepräsentiert sind (oben 1). Es liegt auf der Hand, dass wir daran etwas ändern müssen. Aber eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Erziehungscamps und vergleichbare Geistesblitze der kriminalpolitischen Vollprofis um Roland Koch werden die Lage weiter verschärfen. Wie wäre es, einmal nach den Ursachen zu fragen? Um dann diese Ursachen in Angriff zu nehmen?
Könnte es zum Beispiel sein, dass die betroffenen Jugendlichen schon in ihrer Erziehung Gewalt erleben, ohne dass ihnen jemand hilft? Das könnte nicht nur sein, das ist so. Und könnte es zum Beispiel sein, dass den betroffenen Jugendlichen berufliche Perspektiven fehlen? Das könnte nicht nur sein, das ist so. Und könnte das daran liegen, dass sie es in unserem Bildungssystem schwerer haben als andere? Das könnte nicht nur sein, das ist so. Für Sozialdemokraten gilt und hat immer gegolten:
Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik. Nirgends ist das so wahr wie angesichts der Gewaltkriminalität junger Ausländer. Sie brauchen von Kindesbeinen an sprachliche Förderung, sie brauchen eine gewaltfreie Erziehung, sie brauchen schulische und berufliche Bildung, und sie brauchen – nicht ganz zuletzt – das Gefühl, zu dieser Gesellschaft
dazuzugehören, willkommen zu sein. Alles verstehen heißt nicht, alles verzeihen. Aber nur wer versteht, hat eine Chance, etwas zu ändern.

5. Sozialdemokratische Kriminalpolitik statt Demagogie. Jedes Gewaltdelikt ist eines zuviel. Jedes Gewaltdelikt ist für die Betroffenen schlimm, manchmal eine Katastrophe.
Es besteht kein Anlass, die Täter barbarischer Misshandlungen verzeihend
in die Arme zu schließen. Im Gegenteil muss es stets möglich sein, schwere
Verbrechen auch schwer zu bestrafen. Aber wer bei diesem Gedanken stehen bleibt, kommt nicht ans Ziel; an das Ziel, die Gewaltkriminalität in unserer Gesellschaft noch weiter zu senken und zu minimieren (eine Gesellschaft ganz ohne Kriminalität ist – leider! – so undenkbar wie ein Leben ohne jede Krankheit).

Das Strafen- und Sicherungsinstrumentarium unseres Straf- und Polizeirechts ist bereits vielfältig und weit gespannt. Verschärfungsbedarf ist allenfalls punktuell diskutabel, etwa hinsichtlich der Einführung eines Fahrverbots als Sanktion auch im Jugendstrafrecht. Über solche Frage kann man mit Sozialdemokraten ruhig und verantwortungsbewusst
jederzeit sprechen. Mindestens ebenso wichtig und derzeit viel
drängender ist es aber, Möglichkeiten zu schaffen und zu erweitern, straffällige Jugendliche zu resozialisieren und, zum Nutzen aller, in ein straffreies Leben zu führen. Das kostet Zeit, Kraft – und Geld. Gleiches gilt für die nicht minder wichtigen Bemühungen,
Menschen, besonders Jugendliche aus anderen Ländern in unsere Gesellschaft einzugliedern und ihnen die Chancen zu geben, die andere haben und die jeder braucht, um seinem Leben einen Sinn zu geben.

Die Hetze, die wir heute erleben, ist das Werk einiger verantwortungsloser Politiker, deren wahrer Beweggrund nicht die Sorge um das Gemeinwohl ist, sondern die verzweifelte Jagd nach dem Mandat – mit populistischem Schaum vor dem Maul. Sozialdemokratische Kriminalpolitik lässt sich davon nicht beirren, weil sie weiß, was sie den Menschen schuldet.

Prof. Dr. Tonio Walter
Vorsitzender des AsJ-Bezirks Oberpfalz

 

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